
Im Sommer 2024 berichtete ich über die Hintergründe und Umstände der im Juni 2024 erfolgten Auslieferung von Maja T. nach Ungarn. Maja T. wird vorgeworfen, sich einer kriminellen Vereinigung angeschlossen zu haben, um Sympathisanten des rechten Spektrums gewaltsam anzugreifen. Konkret soll Maja T. im Februar 2023 in Budapest an mehreren schweren Körperverletzungen an Rechtsextremen beteiligt gewesen sein. Ungarn hat aus diesem Grund einen europäischen Haftbefehl gegen Maja T. erlassen. Maja T. befand sich seit Dezember 2023 in der JVA Dresden. Nachdem in der Folge das Kammergericht die Auslieferungshaft beschlossen hat, wurde die Auslieferung am 27. Juni 2024 für zulässig erklärt.
Dazwischen lagen wiederholte Nachfragen des Kammergerichts bei den ungarischen Behörden zur Frage, ob die non-binäre Person Maja T. in Ungarn ein rechtsstaatliches Verfahren erwarten dürfe. Die ungarischen Behörden gaben letztlich Garantieerklärungen für angemessene Haftbedingungen und Risikoanalysen ab.
Hohes Tempo bei der Auslieferung im Juni 2024
Auf dieser Grundlage stimmte auch der Bundesgerichtshof der Auslieferung am 27. Juni 2024 zu – danach ging plötzlich alles sehr schnell. Noch in der Nacht zwischen dem 27. und dem 28. Juni wurde Maja T. aus der JVA Dresden abgeholt und am frühen Morgen des 28. Juni 2024 über die österreichischen Behörden zur Durchlieferung nach Ungarn übergeben. Der Antrag der Rechtsbeistände von Maja T. auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ging beim Bundesverfassungsgericht um 07:38 Uhr ein und wurde der Generalstaatsanwaltschaft um 08:32 Uhr übermittelt. Zu diesem Zeitpunkt war die Auslieferung von Maja T. aus deutscher Seite bereits abgeschlossen.
Nachdem der Fall bundesweit für Aufregung sorgte und in der öffentlichen Wahrnehmung zum Teil einiges durcheinandergeriet, nahm in der Sitzung des Rechtsausschusses vom 03.07.2024 auch die Leitende Oberstaatsanwältin und Ständige Vertreterin der Generalstaatsanwältin in Berlin, Simone Herbeth, dazu Stellung. Die Generalstaatsanwaltschaft begründete das schnelle Tempo der Auslieferung damit, dass Entscheidungen nun einmal sofort vollzogen werden sollen. Auch Justizsenatorin Dr. Badenberg bezeichnete das Verfahren in der Plenarsitzung des Abgeordnetenhauses am 04.07.2024 als „absolut beanstandungsfrei“. Nach meinem Rechtsempfinden überzeugte das bereits zu diesem Zeitpunkt nur bedingt.
Maja T. in Grundrecht aus Artikel 4 Charta der Grundrechte der Europäischen Union verletzt
Nun stellt auch das Bundesverfassungsgericht klar: Maja T. hätte nicht nach Ungarn ausgeliefert werden dürfen. Der Beschluss des Berliner Kammergerichts verletzt Maja T. in ihrem Grundrecht aus Artikel 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Dies ist das Verbot unmenschlicher und erniedrigender Behandlung/Strafe und Folter.
Im Hinblick auf die Haftbedingungen legte Maja T. bzw. ihr Rechtsbeistand bereits im Vorfeld der eigentlichen Auslieferung eidesstattliche Erklärungen ehemals in Ungarn inhaftierter Personen, jüngste Rechtsprechung sowie aktuellste Berichte der Nichtregierungsorganisation Hungarian Helsinki Committee (HHC) vor, die allesamt belegten, dass in ungarischen Justizvollzugsanstalten chronische Überbelegung, hygienische Mängel und unzureichende Ernährung bekannte Probleme sind (vgl. BVerfG, Beschl. v. 24.01.2025, Az. 2 BvR 1103/24, Rn. 73).
Das Kammergericht hat sich mit den vorgelegten Unterlagen aus Sicht des Bundesverfassungsgerichts nur unzureichend auseinandergesetzt, seine Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung überwiegend auf ältere Entscheidungen des Oberlandesgerichts Celle gestützt und ist damit letztlich seiner Aufklärungspflicht nur unzureichend nachgekommen.
Kammergericht kam seiner Aufklärungspflicht nicht nach und stellte keine eigene Gefahrenprognose an
Die Garantieerklärungen Ungarns, auf die sich das Kammergericht zur Begründung der Auslieferung stützte, waren darüber hinaus nicht geeignet, unmenschliche oder erniedrigende Behandlungen für Maja T. gänzlich auszuschließen. Die Erklärungen Ungarns waren allgemein gehalten und verwiesen zum Teil auf 20 Jahre alte Gesetze, ohne sich konkret auf Haftbedingungen oder explizite Zusicherungen für Maja T. zu beziehen.
Zudem stand nach Auskunft der Oberstaatsanwaltschaft Budapest bereits zum 20. Juni 2024 fest, in welcher Vollzugsanstalt Maja T. untergebracht werden sollte. Doch das Kammergericht stellte mit Blick auf die konkrete Haftanstalt keine weiteren Nachforschungen, Anfragen oder eigene Gefahrenprognosen an. Dies was aus Sicht des Bundesverfassungsgerichts ein Fehler. Das Kammergericht hätte die konkreten Haftbedingungen in der für Maja T. vorgesehenen Vollzugsanstalt im Ergebnis genauer untersuchen und auch aktuelle Lageberichte einholen müssen. Auch die durch die ungarischen Behörden zugesicherte Möglichkeit, dass deutsche Diplomat:innen die Unterbringung von Maja T. begutachten könnten, „entbindet das Kammergericht nicht von der Vornahme einer eigenen Gefahrenprognose bezüglich der zu erwartenden Haftbedingungen“.
Maja T. hatte keine Möglichkeit effektiven Rechtsschutzes
Auch stellt das Bundesverfassungsgericht fest, dass die außergewöhnlich schnelle Umschlagzeit nach der Entscheidung des Kammergerichts im Fall Maja T. keine verfassungsgerichtliche Überprüfung bzw. Entscheidung ermöglichte und Maja T. daher aufgrund dieses tiefgreifenden Grundrechtseingriffs ein fortbestehendes Rechtsschutzbedürfnis hat.
Die Rechtsschutzmöglichkeiten im Auslieferungsverfahren sind in Deutschland bislang stark eingeschränkt. Ein ordentliches Rechtsmittel gibt es nicht, es bleibt nur die Verfassungsbeschwerde als außerordentliches Rechtsmittel. Um eine Auslieferung zu verhindern, muss diese in aller Regel schnellstmöglich eingelegt und außerdem ein Antrag auf einstweilige Anordnung gestellt werden.
Referentenentwurf des BMJ sieht neuen Rechtsbehelf im Auslieferungsverfahren vor
In der Vergangenheit arbeitete an dieser Problematik bereits eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe. Im September 2024 hat die Bundesregierung nun unter Federführung des Bundesjustizministeriums einen Referentenentwurf zur Internationalen Rechtshilfe in Strafsachen erarbeitet. Der Entwurf sieht einen neuen Rechtsbehelf in Auslieferungsverfahren sowie das Recht auf Anhörung vor dem für die Auslieferung zuständigen Gericht vor. Der neue § 83 des Entwurfes über das Gesetz zur Neuregelung des Rechts der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen sieht so beispielsweise konkret vor, dass gegen die Zulässigkeitsentscheidung binnen einer Woche nach Bekanntgabe ein Rechtsbehelf mit einer der Auslieferung aufschiebenden Wirkung eingelegt werden kann.
Beschluss des BVerfG hat starke Signalwirkung für Parallelverfahren
Auch wenn die erfolgreiche Verfassungsbeschwerde und die geplante Gesetzesänderung in diesem Fall zu spät kommen, so gibt es laut dem Rechtsbeistand von Maja T. zumindest „eine starke Signalwirkung auf die Parallelverfahren der weiteren Beschuldigten“. Maja T. soll als Mitglied einer Gruppierung gehandelt haben.
Der Gruppierung gehörte laut Presseberichten so unter anderem der 31-jährige Johann G. an. Auch in seinem Fall wurde von den ungarischen Behörden ein europäischer Haftbefehl erlassen und um Überstellung von Johann G. nach Ungarn gebeten. Doch das Oberlandesgericht Thüringen und auch die Generalstaatsanwaltschaft Thüringen haben dies erst Ende Januar 2025 abgelehnt. Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts im Verfahren Maja T. scheint also durchaus eine richtungsweisende Bedeutung zu haben. Er könnte dazu führen, dass Auslieferungen nicht mehr in einer derart schnellen Umschlagzeit erfolgen und die Gerichte ihrer Aufklärungspflicht vollumfänglich nachkommen. Auch die weitere Angeklagte aus der Gruppierung, Hanna S., wurde bislang nicht nach Ungarn ausgeliefert. Ihr Prozess soll am 19. Februar 2025 vor dem OLG München starten.
Betroffene müssen in einem Rechtsstaat die reale Möglichkeit haben, sich rechtlich gegen eine Auslieferung zu wehren. Ein „blindes Vertrauen“ deutscher Behörden auf (allgemeine) Zusicherungen anderer (EU-)Staaten darf es nicht geben. Vielmehr bedarf es seitens aller beteiligten Behörden in jedem Einzelfall einer individuellen und tiefgehenden Prüfung zu der Frage, ob im Zielstaat menschenwürdige Haftbedingungen für alle Gruppen gewährleistet sind.
Der Referentenentwurf ist ein erster Schritt zur Stärkung des individuellen Rechtsschutzes in Auslieferungsverfahren. Wie sich der Entwurf nun entwickelt und welche Stellungnahmen von Verbänden, Fachkreisen und aus den Ländern dazu kommen werden, werde ich weiter beobachten.