Der Vollmond mitten in der Nacht: auch dann braucht es den nächtlichen ermittlungsrichterlichen Bereitschaftsdienst

Seit dem 1. Januar 2020 und damit seit fünfeinhalb Jahren ist der nächtliche ermittlungsrichterliche Bereitschaftsdienst am Amtsgericht Tiergarten abgeschafft. Er stellte gemäß dem in den Vorschriften des Grundgesetzes und der Strafprozessordnung verankerten Richtervorbehalt sicher, dass Entscheidungen über besonders grundrechtsintensive Ermittlungs- oder Gefahrenabwehrmaßnahmen auch nachts und an Wochenenden/Feiertagen durch eine:n Richter:in getroffen werden. Das betrifft etwa Wohnungs- und Geschäftsdurchsuchungen, Blutentnahmen, Beschlagnahmen oder Sicherstellungen. In diesem Zusammenhang stellte das Bundesverfassungsgericht bereits in seinem Beschluss vom 12.03.2019 (2 BvR 675/14) fest, dass die Gerichte verfassungsrechtlich dazu verpflichtet seien, „die Erreichbarkeit eines Ermittlungsrichters auch durch die Einrichtung eines Bereitschaftsdienstes zu sichern“. Dabei sei auch während der Zeit zwischen 21 Uhr und 6 Uhr morgens ein ermittlungsrichterlicher Bereitschaftsdienst einzurichten, wenn ein Bedarf besteht, „der über den Ausnahmefall hinausgeht“.

Grundrechtsintensive Maßnahmen in der Nachtzeit werden aktuell dauerhaft wegen „Gefahr in Verzug“ angeordnet – hunderte „Ausnahme-Fälle“

Seit der Abschaffung des nächtlichen ermittlungsrichterlichen Bereitschaftsdienstes am Amtsgericht Tiergarten werden grundrechtsintensive Maßnahmen in der Zeit zwischen 21 Uhr und 6 Uhr morgens regelmäßig von den Berliner Staatsanwält:innen mit der Begründung „Gefahr in Verzug“ angeordnet. Doch wird das Land Berlin damit den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts nicht gerecht.

Zum Thema habe ich im Rahmen einer schriftlichen Anfrage Auskunft von der Berliner Senatsverwaltung erhalten. Die Anfrage ging auf Anregung des Berliner Strafverteidigers Malte Höpfner zurück.

Bevor der nächtliche ermittlungsrichterliche Bereitschaftsdienst abgeschafft wurde, gab es pro Nacht circa 2,77 Entscheidungen von Bereitschaftsrichter:innen. Die aktuellsten Zahlen aus dem Jahr 2022 zeigen, dass es auch nach der Abschaffung noch 1,5 bis 2,2 richterliche Durchsuchungs-anordnungsentscheidungen pro Nacht gegeben hat. Die weitere systematische Erhebung der Entscheidungen wurde zum 1. März 2023 eingestellt, sodass es keine weiteren Daten dazu gibt.

Weiterhin durchschnittlich mindestens zwei grundrechtsintensive Anordnungen pro Nacht

Lehmann dazu: „Unterstellt man realitätsnah eine in etwa gleichbleibende Entscheidungsstärke aus den Jahren 2019 und 2022 pro Nacht, liegt meinem Rechtsempfinden nach durchaus ein Bedarf vor, der über den vom Bundesverfassungsgericht genannten Ausnahmefall hinausgeht. Damit finden in Berlin regelmäßig auch nachts Grundrechtseingriffe statt, die eigentlich der Entscheidung einer Richterin oder eines Richters bedürften. Dass der Senat hierzu keine Daten mehr erhebt, ist bedauerlich – braucht es doch gerade belastbare Daten, um einen Bedarf für eine mögliche Wiedereinführung festzustellen und dem Präsidium des Amtsgerichts Tiergarten überhaupt eine rechtssichere Prognoseentscheidung zu ermöglichen. Pauschale Annahmen scheinen hier nicht das richtige Mittel zu sein.“

Ohne ermittlungsrichterlichen Bereitschaftsdienst besteht die Gefahr einer Unverwertbarkeit der Beweismittel

Insbesondere bei außerordentlich grundrechtsintensiven Maßnahmen wie der Wohnungsdurchsuchung ist es Zweck des Richtervorbehaltes aus Art. 13 des Grundgesetzes, dass zwei voneinander unabhängige und juristisch qualifizierte Instanzen (Staatsanwaltschaft und Ermittlungsrichter:in) das Vorliegen der Eingriffsvoraussetzungen bestätigen. Dies dauerhaft zu umgehen, indem Staatsanwält:innen die Entscheidungen wegen „Gefahr in Verzug“ treffen, kann verfassungsrechtlich nicht richtig sein. Hierin liegt letztlich auch ein Risiko für Beweisverwertungsverbote in späteren Gerichtsverfahren. Zwar gab es nach Angaben der Berliner Generalstaatsanwältin und der Präsidentin des Kammergerichts bislang keine Verfahren, in denen Berliner Gerichte „von einer Unverwertbarkeit von Beweismitteln aufgrund eines fehlenden nächtlichen Bereitschaftsdienstes ausgegangen sind“. Dennoch wäre in diesem Zusammenhang Vorsicht besser als Nachsicht. Lehmann hierzu: „Ein verlässlicher nächtlicher Bereitschaftsdienst beugt potenziellen Beweisverwertungsverboten von vornherein wirksam vor und löst eine mögliche Verfassungswidrigkeit sicher.“

Berlin ist mit anderen Mittel- oder Großstädten kaum vergleichbar

Auch der Verweis des Senats auf die Amtsgerichte anderer Städte, die ebenfalls keinen nächtlichen Bereitschaftsdienst haben, greift zu kurz. Berlin ist mit rund 3,8 Millionen Einwohner:innen, jährlich mehr als 12 Millionen Gästen und einem ausgeprägten Nachtleben nicht nur deutlich größer, sondern weist dadurch auch ein höheres Aufkommen nächtlicher Polizeieinsätze auf. All das schafft ein Belastungsprofil, welches mit Mittel- oder Großstädten nur bedingt vergleichbar ist.