Am Dienstag, 20. September, befasste sich der Europäische Gerichtshof mit der Vorratsdatenspeicherung. Wie sie in Deutschland gehandhabt wird, ist nicht mit dem Europarecht vereinbar. In diesen Beitrag möchte ich einen kleinen Überblick über die Vorratsdatenspeicherung geben. Zudem werde ich das Urteil politisch einordnen.
Was ist Vorratsdatenspeicherung?
Vorratsdatenspeicherung bedeutet, digitale Verkehrs- und Standortdaten auf Vorrat zu speichern. Internetanbieter speichern von allen von Menschen, die Telefone, Handy, Computer und Tablets nutzen, wann sie welche Webseiten aufrufen und wen sie anrufen. Gespeichert wird bei mobilen Geräten auch der grobe Standort. Das geht besonders in Städten mit sehr genauem Ergebnis. Wenn dann später ein Verbrechen festgestellt wird, greifen die Behörden auf diese Daten zurück. Meist ist dafür zuvor ein Gerichtsbeschluss nötig.
Die Europäische Union hat bereits 2006 in einer Richtlinie den Rahmen für die Vorratsdatenspeicherung vorgeschrieben. In Deutschland wurde sie dann Anfang 2008 eingeführt und 2010 vom Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig wieder ausgesetzt. 2014 folgte der Europäische Gerichtshof und erklärte die Richtlinie für europarechtswidrig und damit nichtig. 2015 wurde dann in Deutschland ein neues Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung beschlossen. Nach einem Urteil 2017 des Oberverwaltungsgerichtes NRW setzte die Bundesnetzagentur die Vorratsdatenspeicherung wiederum vorläufig aus. Im Rahmen einer Revision legte das Bundesverwaltungsgericht die Sache dem EuGH vor, der nun entschieden hat.
Was spricht für eine Vorratsdatenspeicherung?
Die Befürworter:innn der Vorratsdatenspeicherung argumentieren, dass sie notwendig wäre, um schwere Straftaten, wie die Planung von Terroranschlägen, organisierte Kriminalität oder Kinderpornografie zu verfolgen. Im Nachhinein könnte so nachverfolgt werden, wer welche Webseite besucht hat, wer mit wem telefoniert hat oder auch, wo in etwa die Personen waren. Anders sei es nicht möglich. Das sehen nicht alle so.
Was spricht gegen eine Vorratsdatenspeicherung?
Oft sind Datenschutz-Probleme abstrakt und für die meisten Menschen unverständlich. Bei der Vorratsdatenspeicherung ist das anders: Der Staat und Anbieter speichern jede Webseite, die Nutzer:innen besucht haben, mit wem sie geschrieben oder telefoniert haben und wo sie den ganzen Tag waren. Dass dies ein enormer Eingriff in Privatsphäre ist, leuchtet jedem ein.
Diese panoptische Überwachung führt dazu, dass sich das Verhalten der Menschen ändert: auf eine Demonstration gehen? Eine regierungskritische Internetseite besuchen? Viele würden sich mit der Vorratsdatenspeicherung ihr Verhalten zweimal überlegen. Ja, unser Staat ist demokratisch und keine Tyrannei – doch ein demokratischer Staat sollte dann auch nicht die Mittel autokratischer Regime einsetzen.
Anstatt nur Verbrecher:innen mit einem Gerichtsbeschluss zu überwachen, werden alle Bürger:innen überwacht – ob die Daten gebraucht werden, wird erste danach entschieden. Das sei einem demokratischen Rechtsstaat nicht würdig, befand der EuGH nun. Der Staat habe kein Recht, in das Leben von freien und unverdächtigen Bürger:innen so stark einzugreifen. Um es noch einmal zu verdeutlichten: Hier geht es nicht darum, dass Kriminelle oder Terrorist:innen nicht überwacht werden dürfen. Mit Gerichtsbeschluss kann die Polizei dies bereits jetzt umfangreich. Dazu kommt der Bundesverfassungsschutz und die 16 Landesverfassungsschutzämter, die dafür lediglich eine Zustimmung der jeweiligen parlamentarischen G10-Kommission brauchen. Mit der Vorratsdatenspeicherung werden alle Menschen in Deutschland „auf Vorrat“ überwacht werden, für den Fall, dass sich später herausstellt, dass jemand eine Straftat begangen hat.
Missbrauch der Datenbanken ist zu leicht möglich
Bereits bei der jetzigen Datenbank der Polizei kommt es ab und an zu Missbrauch: So suchen Beamte immer wieder einmal nach den Daten aus Personen ihres persönlichen Umfeldes. Durch die Vorratsdatenspeicherung liegen Unmengen Daten bei den Internetprovidern und damit im potenziellen Zugriffsbereich tausender berechtigter Personen. Mal schnell schauen, ob die eigene Frau vielleicht mit einer Affäre telefoniert? Auf welche Webseiten der Kollege in seiner Freizeit geht? Wo das Kind wirklich hingeht, wenn es angeblich lernt? Die möglichen Missbrauchsszenarien sind unzählig. Es zeigt sich immer wieder: wo große Mengen Daten gesammelt werden, werden sie auch missbraucht. Dazu kommt noch die Gefahr von Hackerangriffen: Eine absolute Sicherheit gibt es nicht. Es wäre nur eine Frage der Zeit, bis Hacker:innen Zugriff auf die Vorratsdaten bekommen und sie nutzen, um Menschen zu erpressen.
Zudem basiert die mutmaßliche Hilfe der Vorratsdatenspeicherung bei der Strafermittlung einzig und allein auf dem Prinzip „Viel hilft viel“, ohne empirische Basis. Ein Gutachten im Auftrag des Bundesjustizministeriums zeigt, dass ein Wegfall der Vorratsdatenspeicherung keinen Einfluss auf die Aufklärungsrate haben hätte. Selbst das Bundeskriminalamt hat erklärt, dass die Einführung der Vorratsdatenspeicherung lediglich zu einem Anstieg der Aufklärungsquote um 0,006 Prozentpunkten geführt hat. Dies liegt auch daran, dass Täter:innen heutzutage keine große technische Fähigkeit mehr haben müssen, um online anonym aktiv zu sein. Wer online anonym sein will, kann das leicht tun. Bei schwerer Online-Kriminalität hilft zudem im sogenannten „Darknet“ die Vorratsdatenspeicherung auch nicht.
Was wurde entschieden?
Der Europäische Gerichtshof hat klar festgestellt, dass das anlasslose Sammeln von Kommunikations- und Standortdaten auf Vorrat gegen das EU-Recht verstößt. Damit ist auch die in Deutschland ausgesetzte, aber noch gesetzlich festgeschriebene, Vorratsdatenspeicherung unzulässig. Nur wenn akut die nationale Sicherheit bedroht sei, dürfe temporär die Speicherung von Verkehrsdaten vorgeschrieben werden. Zudem lässt der EuGH die Möglichkeit einer räumlich beschränkten Vorratsdatenspeicherung, zum Beispiel an Flughäfen oder besonders kriminalitätsbelasteten Orten.
Politische Einordnung
Die Meinung der SPD zur Vorratsdatenspeicherung ist leider nicht eindeutig. Die SPD hat sich in mehreren Parteitagsbeschlüssen auf allen politischen Ebenen, ebenso wie alle sozialdemokratischen Netzpolitiker:innen, immer wieder gegen die Vorratsdatenspeicherung ausgesprochen. Dennoch waren Regierungen unter SPD-Beteiligung immer wieder an Schritten zur Einführung der Vorratsdatenspeicherung beteiligt. Zum Einen war dies dem Koalitionsfrieden in Zeiten der Großen Koalition geschuldet. Andererseits es gab auch immer wieder prominente Politiker:innen der SPD, die sich für die Vorratsdatenspeicherung ausgesprochen haben – wie kürzlich auch unsere Bundesinnenministerin. Auch der ehemalige SPD-Vorsitzende Gabriel hat sich deutlich, entgegen der Parteimeinung, für die Vorratsdatenspeicherung ausgesprochen und damit die Wiedereinführung ermöglicht.
Der Bundesjustizminister von der FDP möchte das Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung jetzt schnell streichen. Dagegen möchte die SPD-Bundesinnenministerin eine begrenzte Speicherung von IP-Adressen an bestimmten Orten beibehalten. Bei der Umsetzung ist aber noch vieles unklar: Welche Daten sollen genau gespeichert werden? Wie lange werden sie gespeichert? Welche Orte sollen überwacht werden? Wer bestimmt dies?
Ich glaube, dass es in der Ampel-Koalition, aber auch der SPD-Bundestagsfraktion, inzwischen eine klare Meinung gegen die Vorratsdatenspeicherung gibt. Für Berlin und sicher auch für einige andere SPD-geführte Bundesländer gilt dies ebenso. Dies ist auch der Zivilgesellschaft zu verdanken, die sich viele Jahre organisiert und gegen die Vorratsdatenspeicherung gekämpft hat.
Meine Meinung ist jedenfalls klar: Die verdachtslose Vorratsdatenspeicherung ist ein unverhältnismäßiger Eingriff in die Freiheit und die Privatsphäre. Sie ist weder notwendig noch besonders hilfreich für eine konsequente Nachverfolgung von schweren Straftaten im Inernet.
Alternativen zur Vorratsdatenspeicherung
Es gibt diverse bessere Alternativen, die nicht alle Bürger:innen unter Generalverdacht stellen: Eine Möglichkeit ist die vom SPD-nahen Verein D64 erdachte Log-in-Falle. Dabei werden Seitenbetreiber durch die Polizei bei einem Anfangsverdacht angewiesen, beim nächsten Log-in eines Verdächtigen dessen IP-Adresse zu speichern. Über diese IP kann dann die Polizei dessen Echtdaten herausfinden.
Eine andere Möglichkeit ist das vom FDP-Bundesjustizminister präferierte und vom EuGH als rechtmäßig eingestufte „Quick-Freeze-Verfahren“. Hierbei speichern die Internetanbieter auf richterliche Anordnung hin bei einem Anfangsverdacht die Verbindungs- und Standortdaten von Verdächtigen für eine bestimmte Zeit. Wenn sich der Verdacht erhärtet, kann die Polizei diese dann mit einem weiteren richterlichen Beschluss einsehen.
Doch in erster Linie sind nicht neue Methoden notwendig. Wie immer wieder gezeigt wird, ist insbesondere das Löschen von offensichtlich illegalen Inhalten schnell und selbst ohne Gerichtsbeschluss möglich. Die meisten schweren Internet-Straftaten finden anonym und in geschlossenen Gruppen statt. Sie sind damit außerhalb der Reichweite der Vorratsdatenspeicherung. Deshalb brauchen wir geschulte IT-Expert:innen, um diese zu verfolgen. Polizei und die Staatsanwaltschaften müssen gut ausgestattet sein und entsprechende Mittel haben, um das fähige IT-Personal auch konkurrenzfähig zu bezahlen. Dann kann auch gegen schwere Straftaten, wie Kinderpornografie, erfolgreich vorgegangen werden. Die Polizei kann die Provider einfach aufgefordern, erkannte strafbare Inhalte nicht mehr bereit zu stellen.
Die Vorratsdatenspeicherung ist ein seit Jahren umstrittenes Mittel. Ja, die Straftaten, sind digital geworden, daher muss auch die Strafverfolgung digitaler werden. Die Vorratsdatenspeicherung ist dafür jedoch der falsche Weg. Ich hoffe, dass sich durch das neue Urteil des EuGH Deutschland endgültig von der Vorratsdatenspeicherung verabschiedet. So können wir unsere Freiheit und Privatsphäre vor den falschen Versprechungen massenhafter Datensammlung schützen.